Immer nur dieselben beiden Töne, 25 Sekunden lang. Dann kommt ein weiterer hinzu, irgendwann unmerklich ein vierter. Es scheint, als hätte Andreas Dombert alles hinter sich gelassen, was ihn je als Gitarrist ausmachte: die pfeilschnellen, akrobatischen Hetzjagden über das Griffbrett, die mal boppende, mal latinjazzige, mal straight rockige Herkunft, mit der er sich im Laufe der vergangenen Jahre einen klingenden Namen in der deutschen und europäischen Jazzszene erwarb. Der 38-Jährige arbeitet sich an einem Zweiklang ab, variiert ihn, lässt ihn tanzen und vibrieren, schraubt ihn einen halben Notenwert nach oben oder nach unten, manchmal hat es den Anschein auch nach links oder nach rechts. Er schlägt einen Akkord an, 20, 30, 40 Mal hintereinander. Was sich liest wie die Klang gewordene Einfallslosigkeit, die quälende Monotonie auf sechs Saiten, das enervierende Aufdröseln eingefleischten Konsumverhaltens, das erlangt schon nach wenigen Sekunden eine wundersame Eigendynamik. Wem es als Zuhörer gelingt, sich in die spiralförmigen Wiederholungen, den immer stärker kreiselnden Strudel und dessen hypnotische, zentrifugale Kraft einzulassen, wer die Muße besitzt, ganz tief einzutauchen in Domberts ersten Teil von „Like The Birds Sing“, der nimmt plötzlich eigenwillige, fremdartige, bezaubernde Färbungen und Energien wahr, die sich derart mächtig erst aus den all den Steigerungen und Kontrasten entwickeln können.
„Minimal Music“: So lautet der Terminus aus der Neuen Musik, der im Jazz bis dato eher als wundersames Phänomen wahrgenommen wurde, gerade auch weil stupende Virtuosität hier stets als oberstes Gebot galt. Spätestens jedoch seit Nik Bärtsch und seine Band Ronin die Ohren eines neuen Publikums mit ihrer revolutionären Klangsprache öffnen und die Ingredienzien von Trance, House, Techno, Elektronik, Hip Hop, Arvo Pärt und Wolfgang Rihm zu einem kunstvollen Gebilde verschmelzen, entdecken auch improvisierende Instrumentalisten die frappierende Wirkung der kunstvollen Repetition. Im Wesentlichen waren es vier Komponisten, die unabhängig voneinander in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Begriff „Minimal Music“ zum Gütesiegel der modernen Musikkultur erhoben: La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung europäischer Musiktraditionen, klassischer wie avantgardistischer, sowie die Berufung auf asiatische Vorbilder, wo nicht etwa Melodie, Klangfülle und Variation, sondern vielmehr Rhythmus und litaneihafte Wiederholung dominieren. Die schier endlosen Klangteppiche, die sie aus ihrem musikalischen Mini-Material woben, gelten neben dem traditionellen Jazz als Amerikas eigenständigster, inzwischen auch erfolgreichster Beitrag zur Musikgeschichte.
La Monte Young (ursprünglich ein Jazzmusiker) ist Sopransaxofonist, Terry Riley inszenierte seine Werke hauptsächlich auf der Orgel, Steve Reich begann als Elektroniker und agierte später als Schlagzeuger, während Philip Glass in Paris bei Nadia Boulanger die Zwölfton-Technik studierte, die Oper „Einstein On The Beach“ schrieb, Rhythmen als additive Systeme begriff und die einst starren Grenzen zwischen E- und U-Musik aufhob. Doch von einer Gitarre war in der Minimal Music bislang eigentlich als winzige Zutat (bei Steve Reich) die Rede.
Andreas Dombert, der unter anderem klassisches Klavier lernte, Jazzgitarre an der Hochschule für Musik Nürnberg studierte und mit Jazzlegenden wie Pat Martino, Larry Coryell oder Ulf Wakenius spielte, wagt nun diesen Sprung in eine neue, eine unbekannte Welt. Er tut dies, weil er gerne querdenkt, sich antizyklisch verhält, seine Karriere nicht auf kopierten Lebensläufen aufbauen möchte. Während Kollegen dem vermeintlich kommerziell einträglichen Swing-Revival frönen und versuchen, einen allenfalls vage definierten Publikumsgeschmack zu bedienen, öffnet er nach seinem viel beachteten Triodebut mit Jochen Rueckert und Henning Sieverts („35”, Enja) von 2016 einen bislang unbekannten Korridor.
Er spielt mit sich selbst, entschleunigt seinen Vortrag und auch sein Publikum, indem er eine Auszeit von der Zeit nimmt. Drei Sätze lang variiert Dombert das Thema „Like The Birds Sing“, leitet dann fließend über in seine individuelle Lesart von „Minimal Music“. Ein Abenteuer, für den Konsumenten wie den Musiker gleichermaßen. Denn keiner weiß, wohin die Reise geht. Kleinste Veränderungen können, einmal in Gang gesetzt, gewaltige Entwicklungen auslösen. Der Gitarrist erweitert sein eigenes technisches Portfolio, indem er die Saiten entweder heftig anschlägt, ihren Klang mit metallischen Slides in die Länge zieht oder die Tremolos mit einem Plektrum spielt, um so eine spezielle Körnung zu erreichen. Es sind die Stilmittel eines innovativen Ton-Poeten, der sich mit dem bislang Erreichten nicht zufriedengeben möchte, der auf das „Spannende“ verzichtet, um das Einzelne hörbar zu machen. Immer und immer wieder.
Reinhard Köchl (freier Musikjournalist und Mitglied im Preis der deutschen Schallplattenkritik seit 1998)